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Prof. Francis Waldvogel: Es ist eine optimistische Art, die Welt zu betrachten, aber es ist meine Art.

©Francis Waldvogel

Prof. Francis Waldvogel: "Es ist eine optimistische Art, die Welt zu betrachten, aber es ist meine Art." 

Prof. Dr. Francis Waldvogel ist eine Autorität in der Medizin. Er ist Professor für Medizin, war Direktor des Departements für Medizin in Genf, Vizepräsident des Wissenschaftsrats und Präsident der Schweizerischen Technischen Hochschulen. Er ist Mitglied der Schweizerischen Medizinischen Akademie und der Deutschen Akademie Leopoldina sowie während 10 Jahren Vorsteher des Novartis Venture Fund. Er lebt und arbeitet in Genf. Der Einfluss seiner Arbeit reicht bis nach Frankreich und in die USA. Er ist auch als Autor tätig und hat soeben sein neuestes Buch „Von der Vielfalt der Emergenz“. veröffentlicht. "Das Ganze ist mehr als seine Teile" ist die kürzeste Erklärung, die Prof. Waldvogel gibt. Emergenz, ein Prinzip, das ihm als Naturwissenschaftler natürlich vertraut war. Aber er war erstaunt, auf welche Lebensbereiche sich die Emergenzphilosophie anwenden lässt und wie viele Lösungsansätze für die Probleme unserer Zeit gefunden werden können. Die Welt bestünde nicht aus Einzelteilen, sondern aus miteinander verbundenen komplexen Subsystemen, die sich untereinander austauschen und vernetzen. In seinem Buch stellt er die These auf, dass die Menschen dank der Emergenz auch Selbstlosigkeit und Toleranz entwickelt haben.


Ein faszinierendes Interview über ein optimistisches Buch mit einem äußerst optimistischen Menschen. Das Buch liefert verblüffende, aber auch logische Einsichten. Prof. Waldvogel widmet auch dem großen Thema der Infosphäre einen Abschnitt und plädiert dafür, eine neue Ethik für die Flut der Informationen zu finden. Vor allem die Gesundheit und Zukunft von Kindern liegt ihm am Herzen. 

4. Januar, 2024

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Interview Directory 

LEADER

Name: Prof Dr Francis Waldvogel

Beruf: Professor für Medizin, war Direktor des Departements für Medizin in Genf, Vizepräsident des Wissenschaftsrats und Präsident der Schweizerischen Technischen Hochschulen.

Ausbildung: Medizinische Fakultät, Universität Genf und Paris Abschluss als Dr. med.

Wohnort: Schweiz

Warum fanden Sie das Konzept der Emergenz so inspirierend, dass Sie ein Buch darüber geschrieben haben? 


"Das Ganze ist mehr als seine Teile" 


Emergenz kommt aus dem Lateinischen: "emergere", auftauchen, emporsteigen. Der Begriff wurde erstmals im 19. Jahrhundert entwickelt, dann vor allem in den letzten 50 Jahren. Er stammt aus der Systemtheorie und den Sozialwissenschaften. Er lässt sich perfekt in einem Satz zusammenfassen: "Das Ganze ist mehr als seine Teile". Ich bin diesem Konzept indirekt durch meinen beruflichen Lebensweg begegnet. Als Akademiker, Arzt und Leiter großer akademischer Institute habe ich erkannt, dass unsere historische Denkweise und Forschung, die 300 Jahre lang hocheffizient war, nun auf Hindernisse stößt. Die wichtigsten Fragen zum Leben, zu Krankheit und Tod, zum Bewusstsein, zum Klima, zur Gesellschaft lassen sich nicht im Sinne einer Rettung verstehen. Die Welt besteht nicht aus Einzelteilen, sondern aus miteinander verbundenen komplexen Subsystemen, die sich untereinander austauschen und vernetzen. Durch dieses Zusammenspiel entstehen neue Eigenschaften, die in den Subsystemen nicht enthalten sind. 


Wie können die Menschen von den Erkenntnissen in Ihrem Buch profitieren?


Emergenz ist ein durchgängiges Prinzip, das nicht nur eine wissenschaftliche, sondern auch eine gesellschaftliche Dimension hat. Eine Familie und eine reiche Gesellschaft sind typische Beispiele für Emergenz. Dank dieser Emergenz können die Menschen Selbstlosigkeit und Toleranz entwickeln. Austausch und Interaktion sind grundlegende menschliche Eigenschaften, die durch Emergenz gefördert werden können.  Das war auch der Grund, warum ich dieses Buch geschrieben habe. Ich möchte, dass die Menschen sehen, dass dieses Prinzip auch auf gesellschaftlicher Ebene angewandt werden kann und dass es offensichtlich ist, dass Menschen, die Menschheit und Länder nur existieren, weil sie durch den Austausch zusammengehalten werden. 


Wie wollen Sie das Thema bekannt machen und einen größeren Kreis von Menschen erreichen - werden Sie Lesungen zu diesem Thema halten oder in Talkshows auftreten?


Ich bin eher ein Individualist. In dem großen Netzwerk, das ich in meiner Laufbahn aufgebaut habe, bitten mich viele Menschen um Hilfe, zum Beispiel Vorstände großer Institutionen und Autoren. Aber ich würde gerne eine Talkshow darüber entwickeln. 


In Ihrem Buch fand ich auch den Teil über die neu entstandene Infosphäre sehr relevant.


Die Natur hat viele Kommunikationssysteme, aber sie sind beschränkt. Mit der Infosphäre haben wir eine Welt entwickelt, die total chaotisch ist, weil wir keine moralischen Betrachtungen angestellt haben. Ich plädiere für eine neue Ethik. Wir müssen versuchen, die neue Infosphäre in einem moralischen Rahmen zu halten. 

Zwischentitel: "Die Infosphäre spaltet unsere Gesellschaft". 


Aber die großen Unternehmen wie Meta und Twitter/X bestimmen die Moral.


Das ist meines Erachtens nach falsch. Die heutige Entwicklung ist rein ökonomisch bedingt. Wir müssen massiven Informationen wie Fake News oder Lügen beschränken, aber weder Google noch Amazon können das tun. Das muss über die Philosophie, die Akademien und die Politik gehen.  Die Infosphäre dringt überall in unser Leben ein. Ich habe eine Sendung über Tiktok gesehen und hatte das Gefühl, dass Kinder zu Robotern gemacht werden, dass man ständig mit dem ernährt wird, was man schon gesehen hat, und dass das die Gesellschaft zersplittert. Die Infosphäre spaltet unsere Gesellschaft.


Woher beziehen Sie Ihre Informationen?


Ich arbeite im Internet, aber als Akademiker und Professor habe ich eine kritische Einschätzung. Ich denke, dass die Universitäten anders arbeiten müssen. Die Professoren müssen bereits erklären, wie man aus der Fülle der verfügbaren Informationen die richtigen auswählt und das andere wegwirft. Das ist eine neue intellektuelle Aufgabe, die den Universitäten zufällt. 


Was sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten Errungenschaften der Gesellschaft und wie lautet Ihre Prognose?


Ich werde Sie vermutlich überraschen. Die größten Errungenschaften sind nicht wissenschaftlich, sondern gesellschaftlich. Nahrung für alle, Vorbeugen von Hungersnöten. Die Bildung der Kinder, auch in armen Ländern. Die Emanzipation der Frauen. Auch das sind Ergebnisse von Subsystemen. Die Grundlage dafür war die wissenschaftlich-technologische Entwicklung der Menschheit. Wenn wir diese Probleme in den nächsten 40 oder 50 Jahren bewältigen können, haben wir etwas Gutes getan. 


"Es ist spät, aber nicht zu spät." 


Was befürchten Sie für die Menschheit, aber vor allem, worauf freuen Sie sich?


Die wissenschaftlichen und technologischen Werkzeuge müssen als Emergenzen in die Sozial- und Geisteswissenschaften eingeführt werden. Was mich beunruhigt, ist die Zersplitterung der Gesellschaft. Die absurden Kriege, die wir führen, der Dogmatismus. Während der Covid-Pandemie stand ein Dogma gegen das andere, und nichts wurde ausgetauscht. Auch der Klimawandel und die Zerstörung der Umwelt machen mir Sorgen. Es ist spät, aber es ist nicht zu spät. Wir können jetzt für die nächsten Generationen handeln. 


"Es geht immer um die gleiche Sache. Menschen zusammenzubringen, um eine kollektive Intelligenz zu schaffen.“


In Ihrer Position stehen Sie in direktem Kontakt mit Entscheidungsträgern aus Politik und Wirtschaft. 


Es geht immer um dieselbe Sache. Menschen zusammenzubringen, um eine kollektive Intelligenz zu schaffen. Es ist eine optimistische Art, die Welt zu betrachten, aber es ist meine Art. Mein Netzwerk umfasst Schweiz und Frankreich, England, USA; ein wenig Deutschland, da ich in der Leopoldina-Akademie bin.


„Wenn man große Probleme mit einer kollektiven Intelligenz angeht, werden sie gelöst.“


Ich bin sehr beeindruckt von Ihrem optimistischen Ansatz.


Ein klassisches Beispiel aus meinem Buch ist die Ozonschicht. Vor 30 Jahren entdeckte ein Chemiker, dass die Ozonschicht durch Aerosole zerstört wird. Die ganze Menschheit hat sich politisch zusammengelegt, und alle Aerosole wurden verboten. Es hat 20 Jahre gedauert, bis die Ozonschicht wiederhergestellt war. Wenn man große Probleme mit kollektiver Intelligenz angeht, werden sie gelöst, denn wir haben die Wissenschaft und die Technologie dazu. Das gleiche Konzept gilt für die Plastikproblematik, die Lösungen der Länder müssen kombiniert werden. 

Zum Beispiel bei der Pyrolyse, bei der Kunststoff bei hoher Temperatur ohne Sauerstoff abgebaut wird. Die Makromoleküle werden in kleinere Moleküle zerlegt und daraus wird Diesel, der als Heizöl verwendet werden kann. Ein gutes Beispiel für kollektive Intelligenz. 


Denken Sie zyklisch und nicht linear, wie in der Natur. In der Wirtschaft ist alles linear, aber wenn man es in einen Kreislauf verwandeln kann, erhält man mehr von dem, was die Natur tut. 


"Die Welt, die wir entwickelt haben, passt nicht mehr in unsere Augen“


Haben Sie ein weiteres Buch darüber geschrieben?


In meinem nächsten Buch ("Natur, Du kannst uns noch retten", vom Verlag Odile Jacob Paris, Anm. d. Red.), das bereits vom Verlag angenommen wurde, werde ich zeigen, dass wir noch viel von der Natur lernen können, wenn wir nicht respektlos mit ihr umgehen. Der Mensch hat im Zuge seiner rasanten Entwicklung seine eigene Umwelt verändert. Die Anpassung an seine neue Umgebung ist unzureichend. Die Ernährung unserer Vorfahren zum Beispiel war unzureichend, und heute haben wir alles im Überfluss; die Folgen sind Obesitas. Natürlich kann man nicht zurückgehen, aber man muss diese Analyse im Hinterkopf haben. Die Kultur hat riesige Fortschritte gemacht, die Natur geht langsam vorwärts, und wir haben eine Kluft dazwischen. 


Offenbar gibt es eine neue Epidemie von Kurzsichtigkeit bei Kindern, die auf die ständige Nutzung von Bildschirmen zurückzuführen ist. Die Welt, die wir entwickelt haben, passt nicht mehr zu unseren Augen. Hier befinden wir uns im Bereich der Bioethik. 


In dem Buch geht es auch um die Plastik-Epidemie. Wir haben einfach Plastik produziert, und jedes Jahr gehen 10 Millionen Tonnen Plastik in die Ozeane. Wir haben die moralische Verpflichtung, unsere Errungenschaften daraufhin zu analysieren, ob sie mit der Natur im Gleichgewicht stehen. 


„Mein ganzes Leben führte ich so, wie ich es wollte, ohne jegliche politische Einschränkungen.“


In welcher Rolle haben Sie in Ihrer langen beruflichen Laufbahn die größte Erfüllung gefunden? 


In den letzten 20 Jahren habe ich hauptsächlich in Projekten gearbeitet. Meine Erfüllung kommt, wenn diese Projekte der Menschheit etwas nutzen und sie weiter bringen. Mit dieser Philosophie war ich sehr glücklich. 

Sobald ich zum Ordinarius wurde, beschloss ich, meine ganze Zeit den anderen zu widmen. Ich war ein leidenschaftlicher Professor und habe mehr als 400 Mediziner und über 40 Professoren ausgebildet. Wenn ich jemand fördern konnte, damit er etwas Neues realisieren konnte, hat mich dies mit größter Freude erfüllt. Von Geburt an wuchs ich in einer glücklichen Familie auf, in einer schönen Schweiz und in einem schönen Europa. Mein ganzes Leben führte ich so, wie ich es wollte, ohne jegliche politische Einschränkungen. 

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