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Rita Süssmuth: „Wo ist die Tatkraft, die Deutschland seit dem Wiederaufbau prägte.“
Sie prägte die Politik der 1980er und 1990er Jahre und ist bekannt für ihre klaren Worte. Man nennt sie auch die Grande Dame der deutschen Politik. Im Alter von 87 Jahren erhebt Rita Süssmuth noch einmal ihre Stimme mit der ihr eigenen Unabhängigkeit. Angesichts aktueller Krisen und Kriege, der überraschenden Wahlergebnisse und politischer Unentschlossenheit. Ihr neuestes Buch ist die persönliche Bilanz einer der profiliertesten Politikerinnen Deutschlands.
Rita Süssmuth war von 1985 bis 1988 Bundesministerin für Jugend, Familie und Gesundheit und von 1988 bis 1998 Präsidentin des Deutschen Bundestages. Ihre Amtszeit von fast 10 Jahren war die drittlängste in der Geschichte des Bundestages. Sie war es, die sich in den 1980er Jahren gegen die Ausgrenzung, Stigmatisierung und Isolierung von AIDS-Kranken gegen den Widerstand der Regierung wehrte. Sie war die erste, die im November 1985 eine Broschüre über AIDS an alle Haushalte in Deutschland verteilen ließ.
Die in Neuss bei Düsseldorf lebende Politikerin will mit ihrem Buch ein Plädoyer für mutige, visionäre Entscheidungen geben. Sie hat dieses Buch geschrieben, weil sie sich Sorgen um das Gemeinwesen in Deutschland macht. Sie sieht nur noch "Zögern, Zaudern und Zaudern" statt der "Tatkraft", die Deutschland seit dem Wiederaufbau auszeichnete.
Das Interview führte Ralf Markmeier vom Bonifatius Verlag.
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2. Juli 2024
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"Wo sind die Werte, die das Selbstverständnis der Bundesrepublik jahrzehntelang bestimmten? Wer redet endlich von unseren Stärken? Ist uns der Mut verloren gegangen?"
Frau Süssmuth, was treibt Sie, mit 87 Jahren nochmals an, ein Buch zu schreiben?
Rita Süssmuth: Ich möchte ermutigen. Denn ich mache mir Sorgen um unser Gemeinwesen. Es hat Dank unseres Grundgesetzes, Dank des Handelns besonnener Politikerinnen und Politiker, Dank des demokratischen Denkens der Menschen in Deutschland uns allen ein dreiviertel Jahrhundert innere und äußere Stabilität beschert. Diese Zeit droht zu Ende zu gehen.
Woran machen Sie das fest?
Süssmuth: Erstens am Rechtsruck in vielen demokratischen Staaten - und bei uns, zweitens am Aufstieg der Despoten ringsum in der Welt und drittens am Schwinden von Mut und Tatkraft in unserem Lande.
Wo sehen sie diese mangelnde Tatkraft?
Süssmuth: Im Zögern, Zagen und Zaudern - auf vielen Ebenen der Politik und Gesellschaft. Wo ist die Tatkraft, die Deutschland seit dem Wiederaufbau prägte? Wo sind die Werte, die das Selbstverständnis der Bundesrepublik jahrzehntelang bestimmten? Wer redet endlich von unseren Stärken? Ist uns der Mut verloren gegangen? – Das sind die Fragen, die ich als Politikerin und Bürgerin stelle.
Ihre Kritik hat, so scheint es, Wurzeln auch in ihrer eigenen Lebensgeschichte?
Süssmuth: Natürlich. Es waren die vielen persönlichen Erfahrungen in der Kriegs- und Nachkriegszeit und auch später - die in mir Mut und Entschlossenheit gestärkt haben. Widerstände zu überwinden hat mich persönlich stärker gemacht. Diese Widerstandsfähigkeit konnte ich später als Quereinsteigerin in der Politik gut brauchen. Dort stießen meine Standpunkte beispielsweise in der Auseinandersetzung mit Aids, Abtreibung oder zum sozialpolitischen Engagement auf parteipolitischen Widerstand.
"Demokraten dürfen nicht ausgrenzen und aussperren! Nein, sie müssen integrieren."
Sie waren es, die durch Ihr energisches Einschreiten geplante Sammellager für AIDS-Infizierte verhindert haben…
Süssmuth: …und das mit aller Energie, die mir zur Verfügung stand! Demokraten dürfen nicht ausgrenzen und aussperren! Nein, sie müssen integrieren. Das war der Standpunkt meiner Präventionspolitik in den Zeiten von AIDS. Die Geschichte hat bewiesen: Unser Zupacken hat sich gelohnt – für Freiheit, Menschenrechte und die Gesundheit aller Menschen. Es geht oft mehr, als wir denken. Wenn wir Widerständen nicht ausweichen.
Ebenso haben sie sich für die Neuregelung des Abtreibungsparagraphen eingesetzt – und damit durchgesetzt.
Süssmuth: Ein langer Kampf zur Entkriminalisierung. Aber er musste ausgefochten werden, um das Thema aus der Grauzone zu holen. Noch heute sind viele Frauen dankbar dafür.
"Ehrlich gesagt hatte ich anfangs wenige Freunde."
Sie haben auch zugepackt, als es um die Verhüllung des Reichstags ging – eine historische Aktion mit weltweiter Wirkung…
Süssmuth: Ehrlich gesagt hatte ich anfangs wenige Freunde. Aber mit Beharrlichkeit und guten Argumenten schafften wir schließlich die Wende. Christo durfte den Reichstag verhüllen – und schuf damit ein weltweit wirksames Signal: Schaut her, ein neuer Reichstag entsteht, der für ein demokratisches, friedliebendes, offenes Deutschland steht. Dieses Signal wirkt bis heute nach.
Dass Sie als fortschrittlich denkende Quereinsteigerin und Wissenschaftlerin in der Politik für klare Standpunkte sorgten, machte sie ja von Anfang an populär…
Süssmuth: ….doch darum ging es mir nicht. Es ging mir vielmehr um pragmatische Lösungen, die stets an der Sache orientiert sind – nicht um ideologische Scheuklappen. Und diese pragmatischen Lösungen vermisse ich zunehmend in der aktuellen Politik.
Der Rechtsruck beunruhigt viele Menschen….
Süssmuth: Zu Recht. Wir müssen auch hier Haltung zeigen, die Gesprächskultur stärken, Freiheiten verteidigen, vor allem aber mutig und entschlossen handeln. Es war ein ermutigendes Signal, dass viele Menschen im Frühjahr gegen Rechts auf die Straße gegangen sind. Weiter so. Die Menschen in unserem Land spüren: Demokratie gibt es nicht zum Nulltarif. Das Dreivierteljahrhundert Freiheit, Frieden und Stabilität, das uns unser Grundgesetz beschert hat, besitzt eine Kehrseite. Es hat uns weniger achtsam gemacht. Jüngere Menschen genießen Wohlstand, Freizügigkeit, Bildungschancen und vor allem eine friedliche Gesellschaft. Was viele von ihnen nicht wissen: Das ist nicht selbstverständlich. Das freie Europa, unser Deutschland, ist, betrachtet man das im Weltmaßstab, eine Insel der Glückseligen. Wer sie weiterhin mit ihren Vorzügen genießen will, sollte spätestens jetzt aufwachen. Und sich einbringen, sich engagieren.
Was ist aufgrund der gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen Ihrer Meinung nach nötig?
Süssmuth: Wir Politiker müssen endlich den Mut aufbringen, offen zu sprechen und die Probleme beim Namen nennen. Denn sonst wirken wir mehr und mehr unglaubwürdig! Die Menschen im Land warten auf Lösungen. Zu lange haben wir es uns bequem gemacht oder auf Zeit gespielt. Das darf nicht länger das Gebot der Stunde sein. Wahrheiten müssen endlich ausgesprochen werden, auch wenn sie unbequem sind.
Welche Wahrheiten wären das zum Beispiel?
Süssmuth: Ein paar Beispiele? Bitte sehr: Zum Beispiel, dass der Kampf gegen den Klimawandel nicht zum Nulltarif zu gewinnen ist. Dass er für jeden von uns mit einem Stück Loslassen liebgewordenen Wohlstands verbunden sein wird. Dass gegen Putins brutale Aggression jede Art von Appeasement-Politik ein fataler Fehler wäre. Dass es zur sozialen Gerechtigkeit auch gehört, das Engagement jedes Einzelnen, der beitragen kann, einzufordern – und es nicht einzulullen. Dass wir endlich aufhören müssen, unsere Schulen als Selektionsmechanismen zu missbrauchen statt als Orte des Lernens und des Förderns. Dass die Energiewende längst weiter wäre, hätten nicht bestimmte Politiker zähen Widerstand beim Leitungs- und beim Windrad-Ausbau betrieben. Und dass unsere Demokratie von den Feinden vor allem von rechts ernsthaft bedroht wird. Reicht das?
"Die Dialogfähigkeit ist uns verloren gegangen – übrigens auch im Umgang mit der AfD."
Vollkommen.
Süssmuth: Ich mache trotzdem weiter, denn es gibt ein weiteres, grundsätzliches Thema. Wir sehen alle den Verfall im Verhalten. Der Respekt voreinander geht dramatisch verloren. Ob Rettungskräfte angegriffen werden oder in sozialen Medien gehetzt wird. Mit Politikerinnen und Politikern wird in einer nie dagewesen rüden und mitunter brutalen Form umgegangen. Was erleben Lehrerinnen und Lehrer täglich in den Schulen? Die Dialogfähigkeit ist uns verloren gegangen – übrigens auch im Umgang mit der AfD.
Was raten Sie uns, wie können wir den ganzen Themen begegnen?
Süssmuth: An uns geht die Frage: Für welche Zukunft wollen wir uns einsetzen? Welches Bild unserer Gesellschaft, welche Haltungen leiten uns? Die Antwort beginnt mit dem Mut, sich dieser Frage unerschrocken zu stellen. Die Realität unserer Tage anzuerkennen. Dem Vertrauen, an Widerständen wachsen zu können. Mit respektvollem Dialog und guter Kommunikation in der Sprache der Menschen.
Worum geht es Ihnen mit dem Buch letztendlich?
Süssmuth: Mit meinen Lebenserfahrungen möchte ich uns alle ermutigen. Wir befinden uns nicht im freien Fall. Ich plädiere für eine Rückkehr zum Sozialethischen. Veränderung ist möglich. Wenn wir nicht immer nur das Negative sehen, sondern uns an unseren Stärken orientieren und uns so dem Unausweichlichen stellen. Ohne Angst, ohne Furcht vor Verlust, ohne Verzweiflung! Denn nur wer heute zupackt, wird gesellschaftliche Herausforderungen lösen und die Demokratie vor ihren Feinden retten!
Das Interview führte Ralf Markmeier vom Bonifatius Verlag.
Buchcover Bonifatius Verlag
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