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Dr. Robert Lackner: „Perls unglaublicher Mut und seine Entschlossenheit, niemals aufzugeben, haben mir imponiert."
2024 jährt sich das Ende des 2. Weltkriegs in Europa zum 79. Mal. Die Helden des D-Day wurden in der wahrscheinlich letzten großen Zeremonie von Präsident Macron geehrt und der 80. Jahrestag des deutschen Widerstands wurde in vielen Veranstaltungen begangen. Andere Helden von damals werden in Büchern oder in der Unterhaltungsindustrie, insbesondere in Hollywood, geehrt, man denke nur an Steven Spielbergs Oskar Schindler. Offensichtlich werden ihre unglaublichen Taten erst dann einem Millionenpublikum bekannt.
Die atemberaubende Lebensgeschichte des jungen Wiener Rechtsanwalts Willy Perl, später William R. Perl, ist hingegen vielen Menschen unbekannt. Dieses Buch könnte das ändern: Wie ein junger Anwalt Tausende von Juden rettete: Die abenteuerliche Geschichte des Willy Perl“, geschrieben vom österreichischen Historiker Dr. Robert Lackner. Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs setzte der Wiener Rechtsanwalt Willy Perl einen Plan in Gang, um Tausende von Juden aus Mittel- und Osteuropa vor dem Holocaust zu retten - nach eigenen Angaben über 40.000 Juden. Es war ein Plan, der - unglaublich, aber nachweislich - zunächst die Zustimmung von Adolf Eichmann, damals SS-Offizier in Wien, fand. Perl bot dem deutschen Offizier an, Wien „judenrein“ zu machen, indem er die Juden emigrieren ließ - ein Plan, der dem Deutschen als die beste Lösung erschien.
Obwohl er zwischenzeitlich von der Gestapo und der SS verhaftet worden war, organisierte Perl mit Hilfe griechischer Schmuggler geheime Flüchtlingstransporte über die „umgekehrte“ Balkanroute in das damalige britische Mandatsgebiet Palästina und rettete Zehntausende von Juden aus Mittel- und Osteuropa vor dem Holocaust. Später arbeitete Perl für die US-Regierung als Soldat und Vernehmungsexperte, in Camp Richtie und schließlich als Psychologe und Universitätsdozent.
Lackner, der auch mit Perls Familie in Kontakt stand, zeichnet diese dramatischen Jahre in Perls Leben genau nach. Ein wichtiges Stück Zeitgeschichte, das in diesem Buch wieder zum Leben erweckt wird. Geschichten wie die des Anwalts Willy Perl dürfen nie in Vergessenheit geraten.
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29. September 2024
„Als ich seinen Nachlass zum ersten Mal in Händen gehalten und gesehen habe, was dieser Mann sonst noch getan hatte, war mir klar: Das muss ich mir genauer ansehen.“
Postcard commemorating the 20th anniversary of Draga and Eli's journey in 1938 - Credits USHMM
Herr Dr. Lackner, woher wissen Sie, dass sich die Begegnung von Adolf Eichmann und William R. Perl genauso zugetragen hat? Konnten Sie mit Zeitzeugen sprechen oder wie genau haben Sie seine Geschichte rekonstruiert?
Wir wissen vom Verhör durch Eichmann, weil Perl es in seinen Memoiren ausführlich beschreibt. Das ist natürlich lange kein Beweis, dass sich die Situation exakt so zugetragen hat. Das gilt auch für andere, teilweise filmreif anmutende Erlebnisse, die Perl selbst schildert. Wesentlich ist jedoch: Für die meisten davon finden sich Belege in anderen Quellen. Um Perls Geschichte zu rekonstruieren, habe ich verschiedene Materialien verwendet, vor allem aus Archiven in den USA, Großbritannien und Israel. Das sind zum Beispiel zeitgenössische Briefwechsel von Perl mit Freunden und Mitstreitern, aber auch Dokumente der „Gegenseite“ wie detaillierte Korrespondenzen und Berichte von britischen Beamten, Diplomaten und Polizisten, denen Perls Transporte nach Palästina ein Dorn im Auge waren. Die Briten verwalteten die Region ja als sogenanntes Mandat für den Völkerbund und wollten aufgrund von Spannungen mit den Arabern den jüdischen Zuzug begrenzen. Insofern sind Perls Unternehmungen etwa im britischen Nationalarchiv in London recht gut dokumentiert. Perls Nachlass wiederum befindet sich in der Bibliothek einer Universität in Washington – eine wahre biografische Schatzkiste.
Warum hat Eichmann Perls Plan, Wien „judenrein“ zu machen, dann doch abgelehnt?
Perl selbst gibt darauf in seinen Memoiren eine Antwort und diese erscheint durchaus plausibel: Sein Vorschlag sah vor, die jüdische Bevölkerung Wiens nach Palästina zu bringen, unbemerkt von den Briten, die diese Transporte als illegal erachteten, weil sie gegen ihren Willen geschahen. Eichmann wollte aber keine „Verbrecherzentrale“ in Palästina, wie er es nannte, warum auch immer. Er zog es vor, die Juden zu „atomisieren“, womit er jedoch noch nicht ihre komplette Vernichtung meinte, sondern vielmehr ihre Zerstreuung in alle Windrichtungen. So zumindest hat Perl diese Worte interpretiert.
Courtesy Estate of William R. Perl
„Aber ganz allgemein kann man aus Willy Perls Schicksal sicher eine Sache mitnehmen, und zwar seinen unglaublichen Mut und seine Entschlossenheit, niemals aufzugeben. Das hat mir imponiert."
Wie kamen Sie genau auf das Schicksal von William R. Perl? Warum möchten Sie sich für ihn einsetzen? Haben Sie auch Kontakt zu seiner Familie?
Ich bin auf Willy Perl gestoßen, als ich in Washington für ein anderes Buch recherchiert habe. Dieses handelt von geflüchteten Österreichern, die im Zweiten Weltkrieg in einem streng geheimen Lager von der US-Armee nachrichtendienstlich ausgebildet wurden. Auch Perl, der nach seiner Zeit als Fluchthelfer 1940 in die USA gegangen war, landete in diesem Camp. Zuerst habe ich mich nur für seine Erfahrungen als US-Soldat interessiert, aber als ich seinen Nachlass zum ersten Mal in Händen gehalten und gesehen habe, was dieser Mann sonst noch getan hatte, war mir klar: Das muss ich mir genauer ansehen. Es sind dann ein paar Jahre vergangen, doch schließlich habe ich mich ans Werk gemacht und auch mit einem seiner Söhne Kontakt aufgenommen. Dieser hat mir wunderbare Fotos seiner Eltern für mein Buch zur Verfügung gestellt. Es ist übrigens nicht nur Willy Perl, der Unglaubliches erlebte und tat. Seine Frau Lore, die er erst nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich heiratete, war keine Jüdin, sondern „Arierin“, die Beziehung damit ein schweres Verbrechen. Doch das war nicht alles: Lore Perl versteckte und unterstützte später von der Deportation bedrohte Juden, wurde dafür von einem Nachbarn angeschwärzt, von der Gestapo verhaftet und im Konzentrationslager Ravensbrück eingesperrt. Dass sie und ihr Mann sich nach Kriegsende im zerbombten Wien wiedertrafen, gleicht eigentlich einem Wunder. Und zu Ihrer Frage, warum ich mich für Willy Perl einsetzen möchte: Ich denke nicht, dass ich das tue, er braucht mich auch nicht als „Fürsprecher“. Ich wollte diese Geschichte einfach erzählen, weil ich sie als unheimlich spannend und ergreifend erachte. Mit Lektionen aus der Vergangenheit ist es immer so eine Sache – wie viel man wirklich aus der Geschichte lernen kann, ist unter Historikerinnen und Historikern ja umstritten. Aber ganz allgemein kann man aus Willy Perls Schicksal sicher eine Sache mitnehmen, und zwar seinen unglaublichen Mut und seine Entschlossenheit, niemals aufzugeben. Das hat mir imponiert.
„Für viele Menschen war Perl wohl tatsächlich eine Art Lichtgestalt, weil er die Macht hatte, ihnen einen Platz auf einem seiner Transporte zuzuteilen, und damit im Grunde über Leben und Tod entschied.“
Finden Sie die Bezeichnung „Moses of the Holocaust“ zutreffend?
Ich denke nicht, dass diese Bezeichnung zutreffend ist, und Perl hat sich auch selbst nie so genannt. Sie ist lediglich Teil des Titels einer unveröffentlichten Biografie zweier Autoren, die in den 1990er Jahren umfangreiche Interviews mit ihm und seiner Frau Lore geführt haben. Da hat man sich halt ein paar reißerische Schlagworte ausgedacht, die Perl allerdings total verklären. Denn sie implizieren, er hätte das von den Nationalsozialisten bedrohte jüdische Volk aus Europa nach Palästina geführt wie einst laut Bibel Moses die Israeliten aus Ägypten nach Kanaan. Der Vergleich hinkt absolut, das war natürlich nicht so. Allerdings, eines muss man schon sagen: Für viele Menschen war Perl wohl tatsächlich eine Art Lichtgestalt, weil er die Macht hatte, ihnen einen Platz auf einem seiner Transporte zuzuteilen, und damit im Grunde über Leben und Tod entschied. Das war eine ungeheure Verantwortung, eine ungeheure Bürde, die Perl zu tragen hatte. Er beschreibt das auch sehr eindrücklich in seinen Memoiren: Einmal musste er eine Familie zurücklassen, weil die Mutter ganz offensichtlich an einer infektiösen Lungenkrankheit litt und er nicht riskieren konnte, dass sich andere Passagierinnen und Passagiere anstecken. Seine Schiffe waren in der Regel vollgestopft mit Menschen, das hätte in einer Katastrophe enden können. Kurz gesagt, Perl war sicher jemand, der andere mitunter beeindruckte mit dem, was er tat. Aber Prophet war er keiner.
„Spielberg hat aber keinen großen Spielfilm über Perl gemacht. Einen solchen braucht es wohl, um internationale Bekanntheit zu erlangen.“
Warum, denken Sie, ist die Geschichte von Oskar Schindler medial bekannter als die von William R. Perl?
Die Geschichte von Oskar Schindler ist wegen der Verfilmung von Steven Spielberg weltbekannt geworden, wobei der Film seinerseits auf einem Buch des australischen Autors Thomas Keneally basiert. Ich kann nicht sagen, wie viele Menschen davor von Schindler wussten – die von ihm Geretteten sowie Historikerinnen und Historiker einmal ausgenommen. Ich denke, bei Perl ist es ähnlich. Auch sein Name ist den Menschen, die dank ihm nach Palästina gelangen konnten, und vielleicht noch deren Nachkommen ein Begriff, ebenso wie Forschenden zu dem Thema. Ansonsten sind seine Taten eher unbekannt, obwohl er mehrfach dafür geehrt wurde: in den Vereinigten Staaten von Präsident Ronald Reagan sowie vom Senat, in Israel und 1990 auch von der Stadt Wien. Und interessant dabei ist, dass Spielberg und Perl einander kannten, es gibt sogar ein gemeinsames Foto der beiden. Spielberg hat aber keinen großen Spielfilm über Perl gemacht. Einen solchen braucht es wohl, um internationale Bekanntheit zu erlangen.
Courtesy Estate of William R. Perl
Welche Rolle spielen die Bücher, die Perl später herausgab?
Perl hatte in seinem langen Leben – er wurde 92 Jahre alt und erlebte beinahe das gesamte 20. Jahrhundert – viele Rollen inne: erst Rechtsanwalt, dann Fluchthelfer, später Soldat und Verhörexperte, schließlich Psychologe und Universitätsdozent. Nach der Pensionierung suchte er nach einer neuen Aufgabe – und fand sie unter anderem als Autor. Er wollte verarbeiten, was er vor allem in den Jahren 1936 bis 1940 erlebt hatte, und es war ihm ein Anliegen, die Dinge so darzustellen, wie sie sich seiner Meinung nach zugetragen hatten. Was dabei auffällt: Er nahm diese Aufgabe ungemein erst, beschränkte sich nicht nur auf die bloße Niederschrift seiner Erinnerungen, sondern führte umfangreiche Recherchen durch. Er nahm Kontakt mit ehemaligen Weggefährtinnen und Weggefährten auf, sichtete Notizen, Briefe und offizielle Dokumente aus jener Zeit, graste dafür Archive und Bibliotheken ab, unter anderem das britische Nationalarchiv. Er wollte wissen, was wirklich in den zeitgenössischen schriftlichen Quellen steht. Denn, und das geht aus einem Brief an einen Freund hervor, ihm war völlig klar, wie trügerisch die menschliche Erinnerung sein kann. Das hatte er als Anwalt gelernt, etwa wenn Zeugen ein und denselben Vorfall schon nach wenigen Stunden unterschiedlich beschrieben. Seine Bücher sind also unheimlich akribisch recherchiert und vor allem immens detailreich – so sehr, dass sie vom Verleger vor Veröffentlichung wegen ihrer Länge sogar teilweise gekürzt werden mussten. Sie wurden allerdings von der Öffentlichkeit weit weniger wahrgenommen, als Perl gehofft hatte. Ich denke, das hat ihn – wie das bei jeder Autorin und jeden Autor der Fall wäre – schon auch getroffen.
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Book Cover Dr. Robert Lackner ©Kremayr & Scheriau
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